Julia lebt mit ihrer Familie in Darmstadt und arbeitet als Redakteurin der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, die im Arbor Verlag erscheint. In Darmstadt gibt sie Achtsamkeitskurse für Selbstfürsorge und Stressbewältigung, achtsame Elternschaft und Achtsamkeit in der Natur. Weitere Informationen zu den Achtsamkeitskursen findest du direkt auf Julias Internetseite.

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Liebe Julia, du bist Achtsamkeitslehrerin. Welcher Weg hat dich dorthin gebracht?

Ich bin mit Achtsamkeit durch meine Fortbildungen zur Leitung von Eltern-Kind-Gruppen in Kontakt gekommen. Unser Lehrer Lienhard Valentin hatte bereits in den 90er Jahren Kontakt zu dem amerikanischen Achtsamkeitslehrer Jon Kabat-Zinn und hat ihn für Elternseminare nach Deutschland eingeladen. Als Mutter kleiner Kinder und nach der Gründung einer freien Schule war ich zu diesem Zeitpunkt selbst ziemlich erschöpft. Achtsamkeit kam also mehr oder weniger „zufällig“ in mein Leben, zu einem Zeitpunkt, als ich sehr offen dafür war.

Man hört zwar viel von Achtsamkeit, doch warum ist sie für uns wichtig und wertvoll?

Für mich ist Achtsamkeit zu einer Art Leitstern geworden und zugleich zu einer Praxis die mir hilft, freundlicher und unterstützender mit mir selbst umzugehen und bewusster auf Stress und Schwierigkeiten zu reagieren. Zugleich trägt diese Praxis auch meine spirituelle Ausrichtung und mein Bewusstsein dafür, dass ich nicht getrennt von anderen Menschen und der Natur auf dieser Erde lebe. Das ist es, was ich durch Achtsamkeit erfahren habe – andere Menschen ziehen aus dieser Praxis aber vielleicht andere Erkenntnisse und durchlaufen andere Prozesse. Für mich ist es wichtig und hilfreich, über eine Praxis zu verfügen, an der ich mich orientieren kann und die mir hilft, mich dem Leben mit seinen schönen und schwierigen Seiten immer wieder bewusst zuzuwenden.

Achtsamkeit ist eine angeborene Fähigkeit, die jeder Mensch hat. Warum verlieren wir diese Fähigkeit im Laufe unseres Lebens?

Kleine Kinder leben noch ganz im Augenblick, sie nähern sich den Dingen mit interessierter Aufmerksamkeit, sind oft mitfühlend, vertrauensvoll und großzügig. All dies sind Aspekte von Achtsamkeit – wobei sich kleine Kinder ihrer „Achtsamkeit“ natürlich nicht bewusst sind. So waren wir alle einmal als Kind – und dann machen wir Erfahrungen, die sich nicht unbedingt günstig auswirken. Bestrafung, Beschämung, Verluste, Leistungsdruck, Zeitdruck – es sind viele kleine Mosaiksteinchen, die nach und nach zu der Schicht werden, mit der wir unseren verletzlichen inneren Kern schützen. Das Ursprungswort für Achtsamkeit ist ja „Sati“, und eine seiner vielen Bedeutungen ist, „zurückkehren“. Auf dem Weg der Achtsamkeit kehren wir zurück zu etwas, das wir eigentlich kennen, Schritt für Schritt, jeder und jede im eigenen Tempo. Achtsamkeit ist nichts Fremdes, Angelerntes. Wir alle kennen Achtsamkeit, und doch kann es ein Wagnis sein, sich daran zu erinnern.

Wie können Kinder beispielsweise im Schulalltag Achtsamkeit wieder erlernen?

Grundsätzlich sollten wir Erwachsene uns darüber klar werden, was wir uns davon erhoffen, wenn wir Achtsamkeits-Übungen an Kinder vermitteln. Worum geht es da? Wünschen wir uns insgeheim nicht doch vor allem, dass die Kinder schön still sitzen und brav lernen, was ihnen vorgesetzt wird? Das ginge meiner Meinung nach am Thema vorbei. Es darf in der Schule kein „Zwang zur Achtsamkeit“ entstehen, keine Bewertung von „achtsamem“ oder „unachtsamem“ Verhalten.

Zudem zeigt sich: Kinder lernen Achtsamkeit vor allem von „achtsamen“ Erwachsenen. Wenn Pädagogen also im achtsamen Kontakt mit ihren eigenen Gedanken und Empfindungen sind und wenn sie einem Kind und seinen Bedürfnissen aus echtem, herzlichen Interesse begegnen, dann sind das schon sehr gute Voraussetzungen dafür, dass in einem Klassenzimmer Achtsamkeit entsteht. Und dann kann man natürlich auch Übungen anleiten – nicht, damit die Kinder „endlich mal zur Ruhe kommen“, sondern weil wir als Erwachsene erfahren haben, dass Achtsamkeit hilfreich ist und uns gut tut, und weil wir diese Erfahrung einfach vom Herzen her mit Kindern teilen möchten. Und dann wird es Kinder geben, die das sehr mögen, und andere, die das nicht mögen oder einfach Zeit brauchen, um sich darauf einzulassen. Das als Lehrer annehmen zu können wäre wohl die „hohe Schule der Achtsamkeit“… einzuladen, ohne etwas erzwingen zu wollen.

Wie profitieren Kinder langfristig von der Praxis der Achtsamkeit?

Ich erhoffe mir nur Allerbestes für Kinder und Erwachsene! Dass wir alle lernen, mit Stress, Ängsten und Belastungen besser umzugehen. Dass wir erkennen, wie wir unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht miteinander verbunden sind. Und dass wir gut leben können, auch wenn wir darauf verzichten, uns selbst und die Erde auszubeuten. Wissen und planen kann man das nicht, wir können nur wagen auf diesem Weg weiter zu gehen, auch wenn wir das Ergebnis nicht kennen.

Jugendliche durchleben mit der Pubertät eine sehr herausfordernde Lebensphase. Wie kann man Jugendliche mit der Praxis der Achtsamkeit in dieser Lebensphase begleiten?

Vielen Jugendlichen geht es mit der Welt in der wir heute leben, verständlicher Weise nicht gut, und vielen geht es auch mit sich selbst nicht gut. Zum Teil ist das eine Erfahrung, die Jugendliche zu allen Zeiten gemacht haben und die wir als Eltern oder Pädagogen nicht verhindern können.

Was aber Achtsamkeit betrifft: auch hier sehe ich die Aufgabe vor allem bei den Erwachsenen, die innere Haltung der Achtsamkeit im Umgang mit Jugendlichen zu entwickeln. Und das heißt: immer und immer wieder zur aufrichtigen, interessierten Offenheit zurückzukehren – ohne über das Aussehen, den Geschmack, die Freunde oder sonstige Vorlieben der Jugendlichen Urteile zu fällen. Und das heißt nicht, passiv zu werden oder teilnahmslos oder alles zu erlauben oder alles zu verbieten – was ja in diesem Alter sowieso nicht mehr möglich ist.

Für Eltern heißt Pubertät oft, sich noch einmal ganz klar die Frage nach der eigenen inneren Ausrichtung zu stellen, nach Vertrauen und Liebe für diese stacheligen, anstrengenden Wesen, mit denen wir die Wohnung und leider auch das Badezimmer teilen… Und es geht nicht darum, nie mehr auszuflippen oder immer lächelnd und gelassen zu reagieren. Mir hat die Praxis von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl auf jeden Fall sehr dabei geholfen, mit Angst, Sorgen und den Veränderungen im Familiengefüge so umzugehen, dass der Kontakt zu unseren Töchtern immer wieder zustande kam und wir in dieser Zeit gemeinsam gewachsen sind.

Was bedeutet achtsame Kommunikation?

Achtsame Kommunikation beginnt mit der Bereitschaft, präsent zu sein, wahrzunehmen und sich einzustimmen: auf die eigenen Gedanken und Empfindungen und auf die Gedanken und Empfindungen des anderen. Es geht um Offenheit und echtes, von Herzen kommendes Interesse am anderen. Wenn wir ein Ziel verfolgen und schon vorher wissen, wie der andere sein sollte, was es sagen oder machen sollte, fliegt die Achtsamkeit leider aus dem Fenster raus. Tja, auch ich übe täglich….

Worauf kommt es bei der achtsamen Kommunikation mit Kindern besonders an?

Ich denke, dass wir als Erwachsene vor allem in Konfliktsituationen oft viel zu schnell sind und uns nicht genug Zeit nehmen um herauszufinden, welcher innere Film sich eigentlich gerade in uns abspielt. Wenn wir selbst Stress haben, weil wir uns mal wieder zu viel aufgepackt haben, hundert Sachen gleichzeitig machen oder irgendwelchen Zielen hinterher rennen, reagieren wir automatisch aufgrund von bestimmten Mustern, Vorstellungen und Urteilen – und die haben oft nichts zu tun mit dem Kind und dem gegenwärtigen Augenblick. Das ist bis zu einem gewissen Grad menschlich, weil unser Gehirn darauf ausgerichtet ist, Probleme schnell zu lösen. Dies ist aber nicht der Weg, auf dem wir in Kontakt mit einem Kind kommen und etwas über ein Kind im gegenwärtigen Augenblick erfahren: über seine Beweggründe, seine Stimmung, seine Sorgen oder seine Erfahrungen, die der Situation vorausgegangen sind.

Besonders in Konfliktsituationen wünschen wir uns ja von Kindern oft, dass sie sich in unsere Situation oder die Situation von anderen einfühlen können und angemessen reagieren. Das können Kinder aber nicht, wenn sie selbst Stress haben und von automatischen Reaktionen auf Bestrafung oder Beschämung gesteuert werden. Sie brauchen es, dass sich ein Erwachsener zuwendet, sich einfühlt und versteht, was gerade vor sich geht. Nur wenn Kinder sich sicher fühlen, können sie lernen und sich auch für die Bedürfnisse anderer öffnen. Es geht ihnen wie uns….

Auch für Kinderyogalehrerinnen ist die achtsame Kommunikation ein wichtiges Thema. Wie kann ich als Kinderyogalehrerin achtsames Sprechen und Zuhören üben?

Als Kinderyogalehrerinnen habt Ihr ja die wunderbare Chance, Kindern einen Zugang zum eigenen Körper, zu Bewegung und Beweglichkeit zu eröffnen, frei von Benotung, Bewertung und Vergleichen. Das ist natürlich ein großes Geschenk, das Ihr den Kindern machen könnt.

Achtsames Sprechen und Zuhören zu üben ist ein Teil des Weges und ich glaube, der endet nie… Die Worte, die wir wählen, haben ja immer auch mit den eigenen Erfahrungen zu tun und sind ein Ausdruck unserer Persönlichkeit als Lehrende. Wenn wir offen sind und bereit, selbst dazu zu lernen, sind Kinder die besten Lehrer, die wir dabei haben können.

Und dann geht es eben um das achtsame Bemerken unserer inneren Dialoge. Welche Gedanken kommen auf, wenn ein Kind aus der Reihe tanzt, laut ist oder offensichtlich viel zu müde, um Yoga zu machen? Welche Gedanken und Gefühle kommen auf, wenn alles mal wieder ganz anders läuft als gedacht und geplant? Wie reagiere ich innerlich auf schwierige Reaktionen und erlaube ich mir, nicht perfekt sein zu müssen und die Lösung nicht zu kennen? Diese Praxis der achtsamen, einfühlsamen Selbsterforschung ist aus meiner Sicht essentiell für jeden Menschen, der lehrt oder Wissen und Erfahrungen an Kinder weiter gibt. Und je freundlicher, gelassener und unterstützender wir da mit uns selbst sind, desto eher können wir auch im Kontakt mit Kindern gute und hilfreiche Worte finden.

Liebe Julia, ich Danke dir von Herzen für dieses interessante und inspirierende Interview zum Thema Achtsamkeit!

*Werbung: Dieses Interview enthält Links zum Angebot von Achtsamkeitslehrerin Julia Grösch.
**Bilderquelle: © Julia Grösch